Krisen meistern
Mehr Digitalisierung bedeutet auch ein Mehr an Risiken. Das gilt ebenso für Städte, die daher eine hohe Widerstandsfähigkeit, sprich: Resilienz benötigen. Das LOEWE-Zentrum emergenCITY entwickelt Strategien, um Städte besser gegen Risiken wie Naturkatastrophen, menschliches oder technisches Versagen sowie Kriminalität und Terror zu schützen.
Im Jahr 2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Deren BürgerInnen wiederum nutzen immer mehr digitale Infrastrukturen in allen möglichen Bereichen wie Energie, Verkehr, Gesundheit und Verwaltung. Das macht sie von diesen Systemen abhängig, gleichzeitig sind diese digitalen Systeme anfällig. Das LOEWE-Zentrum emergenCITY erforscht, wie sich die entsprechenden Informations- und Kommunikationssysteme weiterentwickeln lassen, um resiliente Infrastrukturen zu verwirklichen. Das Lösungskonzept ist interdisziplinär und umfasst moderne Informations- und Kommunikationstechnik sowie die historischen, rechtlichen, sozialen und baulichen Aspekte von Städteplanung. Vor allem die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) spielt bei der Reaktion auf eine Krise und bei ihrer Bewältigung eine entscheidende Rolle.
IKT ist der Schlüssel
Der hohe Nutzen von IKT in der Krise begründet damit gleichzeitig aber auch eine starke Abhängigkeit von ihr. Angesichts der steigenden Bedeutung von IKT in allen gesellschaftlichen Bereichen muss sichergestellt werden, dass IKT mit Funktionsstörungen und -beeinträchtigungen während einer Krise umgehen kann. Das heißt: Sie muss über IT-Sicherheit und Ausfallsicherheit hinaus mit erheblichen Systembeeinträchtigungen wie Überlastungen, technischen Fehlern, Cyberangriffen, längeren Stromausfällen oder materiellen Schäden zurechtkommen.
Intelligente Anpassung
„Die ideale resiliente Infrastruktur einer Stadt kann durch die intelligente Nutzung von IKT-Systemen in Krisensituationen selbstständig reagieren und sich an unvorhergesehene Umstände anpassen“, so Prof. Dr.-Ing. Matthias Hollick, Koordinator des LOEWE Zentrums emergenCITY (siehe auch folgende Seiten). Dann nämlich werde trotz signifikanter Beeinträchtigungen die Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt und eine schnelle Rückkehr zur Normalität ermöglicht. Kostspielige Back-up Systeme sind nicht mehr überall nötig. „Die Architektur der resilienten Infrastruktur orientiert sich dabei an den Bedürfnissen der Bevölkerung und umfasst integrative und inklusive Konzepte.“ Dazu gehören zum Beispiel die schnelle Analyse einer Krisensituation aus unterschiedlichsten Datenquellen, eine effiziente Rekonfiguration von Netzknoten oder der Einsatz von mobilen Boden- und Flug-Robotersystemen bei der Lageerfassung.
Notwendiger Paradigmenwechsel
Das hört sich komplex an – und ist es auch. Denn es braucht dafür einen Paradigmenwechsel, erklärt Prof. Hollick: „Resilienz muss ein gleichberechtigtes Optimierungsziel neben Effizienz sein.“ Das heißt, dass im Zuge von Effizienzverbesserungen auch Resilienzziele berücksichtigt werden müssen. Der Umgang mit unvorhergesehenen Störungen müsse zur inhärenten Systemeigenschaft werden. Wenn IKT-Systeme wandlungsfähig konzipiert werden, um sich an eine Krise anzupassen und die zur Bewältigung notwendigen Funktionalitäten notfalls auch erst auszubilden, erhöhe dies die Chance auf einen überbrückenden Notbetrieb und eine Beherrschbarkeit der Krise. Dafür sei es aber notwendig, Resilienz als eine kollektive Aufgabe zu verstehen. Die Bevölkerung sollte frühzeitig in die Formulierung von Resilienzzielen eingebunden werden, um so eine Grundlage der Akzeptanz und des kollektiven Handelns zu schaffen.
Verlässliche, nachvollziehbare Daten
Und noch etwas anderes ist entscheidend in einer resilienten Stadt: die schnelle Verfügbarkeit von qualitativ hochwertigen und verlässlichen Datenräumen. Also, wie Daten erfasst, bereinigt, zusammengeführt, analysiert und visualisiert werden, so Bernhard Seeger, Professor für Mathematik und Informatik an der Philipps-Universität Marburg und ebenfalls Mitglied in emergenCITY. „Alle aus den Daten gewonnen Ergebnisse müssen zudem nachvollziehbar sein und das nicht nur für die Experten, sondern für alle BewohnerInnen einer Stadt, um somit eine hohe Akzeptanz für die daraus abgeleiteten Steuerungsentscheidungen zu bekommen. Das ist wiederum eine Grundvoraussetzung für die aktive Teilnahme der Stadtbevölkerung bei der notwendigen Datengenerierung.“ Spannend sei dabei, wie der Zielkonflikt zwischen Datenbereitstellung und Datenschutz überwunden werden kann.
Resilienzmaßnahmen sind natürlich auch eine Kostenfrage und waren deshalb lange nur zweitrangig gegenüber den Effizienzzielen. Das ist ein Punkt, der sich durch die aktuelle Covid-19 Pandemie womöglich gerade verändern wird. Weiterhin fehlt jedoch in vielen IKT-Systemen die Diversität, die großflächigen, systemweiten und sogar anbieterübergreifenden Ausfällen vorbeugt. Auch Governanceprozesse, um Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren im Erarbeiten von Resilienzvorgaben zu ermöglichen, müssen noch entwickelt werden – ebenso wie spezifische auf Resilienz fokussierte Regulierungsvorgaben.
Autor: Thomas Beckmann
Artikel aus der VDE Rhein-Main info 2-2021