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20.04.2022 Publikation

Blaupause für die Transformation

In der Beitragsserie „Energiewende in Rhein-Main“ berichten Unternehmen und Institutionen aus Forschung und Lehre, Medien, Industrie, Energie- und Mobilität über ihre Vorhaben, Erfahrungen und Anforderungen zur Gestaltung der Energiewende in der Großregion Rhein-Main.

Christian Anhaus vom VDE Rhein-Main sprach mit dem hessischen Wirtschaftsminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Tarek Al-Wazir über die politischen Aspekte der Energiewende.

Es ist wichtig, das entstandene Interview in einen klaren zeitlichen Kontext zu setzen: Die aktuelle Diskussion um die Versorgungssicherheit mit fossilen Energieträgern erfordert einen neuen und noch intensiveren Blick auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das Interview mit Herrn Al-Wazir wurde bereits im Januar diesen Jahres, vor den militärischen Auseinandersetzungen in der Ukraine, geführt. Dennoch bietet es viele interessante Einblicke aus der politischen Perspektive auf die Energiewende in Rhein-Main.

Welche Vorhaben zur Gestaltung der Energiewende möchte die Landesregierung in den Vordergrund stellen?

Grundsätzlich gilt: Sowohl auf EU- als auch auf nationaler und natürlich auch auf Landesebene sind Energieeinsparung, Energieeffizienz und Erneuerbare Energien die zentralen Bausteine der Energiewende. Die beste Energie ist die, die nicht verbraucht wird. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang unsere Wohnhäuser, hier kann richtig was eingespart werden: Rund ein Drittel des hessischen Endenergieverbrauchs entfallen auf Heizung, Beleuchtung und Warmwasserversorgung unserer Gebäude. Gute Gebäudedämmung und moderne Technologien ergeben ein riesiges Einsparpotenzial. Gleichzeitig arbeiten wir daran, fossile Energieträger durch Erneuerbare Energien zu ersetzen, insbesondere durch Nutzung von Wind und Sonne, aber auch anderer Technologien wie Biomasseverstromung oder Wasserkraft. 2019 und 2020 wurde bereits die Hälfte des in Hessen erzeugten Stroms erneuerbar erzeugt. Zur Transformation des Energiesektors wird auch der Aufbau von Speichertechnologien gehören, darunter auch Wasserstoff, ob nun als neue Antriebstechnologie oder als Speicher­option für Überschüsse der Erneuerbaren. Schließlich wollen wir bis 2045 klimaneutral werden, an die 100 Prozent des gesamten Bedarfs aus erneuerbaren Energien decken und dabei ein starkes Industrie- und Dienstleistungsland bleiben. Unser Ziel ist und bleibt eine sichere, umweltschonende, bezahlbare und gesellschaftlich akzeptierte Energieversorgung.

Wie sehen Sie Hessen bzw. das Rhein-Main-Gebiet in Sachen Energiewende aufgestellt. Welche Herausforderungen gibt es und wo gibt es das größte Potenzial?

Als großer Ballungsraum in der Mitte Deutschlands gibt es für das Rhein-Main-Gebiet besondere Herausforderungen: Die Bevölkerungsdichte und -entwicklung, die straßengebundenen Verkehrsströme, der Flughafen, die zunehmende Zahl an stromintensiven Rechenzentren oder die Konzentration an Wirtschaftsunternehmen jeder Art und Größe sind nur einige Stichworte, die die Problemlage eines zunehmenden Energiehungers im Rhein-Main-Gebiet recht gut umschreiben. Darin liegt aber auch der besondere Reiz: Wenn wir es hier schaffen, unsere Wirtschaft nachhaltig zu transformieren, kann das zur Blaupause werden. Hier wird sich entscheiden, ob wir unsere energie- und klimapolitischen Ziele erreichen und damit unseren Beitrag zu den Zielen auf Bundes- und EU-Ebene leisten.

Welche Chancen und Herausforderungen erwarten Sie durch die neue Bundesregierung für die Klimapolitik in Hessen und der Rhein-Main-Region?

Spätestens mit dem Vorziehen des Ziels „Klimaneutralität 2045“ der Bundesregierung am Ende der letzten Legislaturperiode war klar, dass ein „Weiter so“ im Schneckentempo nicht mehr funktionieren wird. Das Ziel Klima­neutralität ist eine wirtschafts- und industriepolitische, aber auch eine gesellschaftliche Herausforderung in einer neuen Dimension. Für den Energie­sektor bedeutet das den Übergang von einer auf fossilen Brenn­stoffen basierenden Struktur hin zu Dezentralität und kohlenstoffarmer Wirtschaftsweise. Darin liegt aber auch eine Chance: So geht die EU-Kommission bis 2030 im Zusammenhang mit dem Transformationsprozess von einem erheblichen Zuwachs an Arbeitsplätzen aus, vor allem in den mittleren Einkommensgruppen. Davon können die Ballungsräume wie das Rhein-Main-Gebiet, aber auch die immer wichtiger werdenden ländlichen Gebiete im Umland immens profitieren, wenn wir es richtig machen. Denn bereits heute nehmen die wissenschaftlichen Einrichtungen und Unternehmen in der Rhein-Main-­Region, aber auch in Mittel- und Nordhessen, weltweit Spitzenplätze bei der Entwicklung innovativer Energietechnologien ein.

Der neue Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck hat eine Bestandsaufnahme bei der klimafreundlichen Transformation und seinen groben Fahrplan vorgestellt. Wie beurteilen Sie seine Pläne?

Das Tempo der Energiewende muss erhöht und Hemmnisse – insbesondere beim Ausbau der Erneuerbaren Energien – beseitigt werden. Folgerichtig hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck bereits jetzt zwei umfassende Maßnahmenpakete mit ambitionierten Zielen angekündigt. Hessen wird – wie alle anderen Bundesländer – seinen Teil dazu beitragen, denn an der Notwendigkeit des klimaneutralen Umbaus unserer Energieversorgung hin zu einem nachhaltigen Wirtschaften besteht kein Zweifel.

Der Ausbau der Windenergie ist in letzter Zeit ins Stocken geraten. Zwei Prozent der Fläche eines Bundeslandes sollen zukünftig für Windenergie bereitgestellt werden. Das erreichen bisher nur Hessen und Schleswig-Holstein. Was macht Hessen besser als die anderen Bundesländer?

Wir machen nicht unbedingt alles besser, aber wir können durchaus für uns reklamieren, dass wir frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und dann auch gegen Widerstände Kurs gehalten haben. Natürlich war das kein einfacher Prozess, auch der nötige Ausbau der Stromnetze wird mit Konflikten verbunden sein. Probleme gibt’s genug, es ist halt ein Unterschied, ob man nur darüber klagt oder nach Lösungen sucht. Mit 1,9 Prozent Windvorrangflächen in den drei hessischen Regierungsbezirken haben wir ein ambitioniertes Flächenziel erreicht, das die Bundesregierung nunmehr für das gesamte Land als notwendig ansieht.

Der Ausstieg aus der konventionellen Stromerzeugung kann nur gelingen, wenn der Aufbau erneuerbarer Energien im notwendigen Maße zeitgleich stattfindet. Hierzu sind verlässliche Rahmenbedingungen zum Schutz der notwendigen Investitionen unabdingbar. Kann die Politik diese Anforderung im ausreichenden Maß erfüllen?

Es ist definitiv die Aufgabe der Politik, verlässliche Rahmenbedingungen für Investitionen zu schaffen. So war der bundesweite Einbruch des Windenergieausbaus im Jahr 2018 zu einem großen Teil auf eine Umstellung der Förderbedingungen zurückzuführen. Die angekündigten Maßnahmen der Bundesregierung lassen den Willen erkennen, an der Stelle für klare Verhältnisse und Planungssicherheit für notwendige Investitionen zu sorgen.

Das Rhein-Main-Gebiet hat einen enormen Hunger nach Energie. Die vielen hier ansässigen Rechenzentren tun ihr Übriges dazu. Wie können diese Unternehmen „grüner“ werden und wie muss die Infrastruktur weiter ausgebaut werden, damit die Energieversorgung nicht zum Bremsklotz für die Wirtschaft wird?

Die Rechenzentren gehören definitiv zu den größten Energieverbrauchern im Rhein-Main-Gebiet. Setzen sich die Trends der Vergangenheit fort, ist damit zu rechnen, dass die Rechenzentren zwar immer effizienter werden, der Zuwachs aber so dynamisch ist, dass der Strombedarf weiter deutlich steigt. Andererseits ist das ein klassisches Beispiel für die Möglichkeiten der Sektorenkopplung, die in der Vergangenheit nicht ausreichend genutzt wurden. Die beim stromintensiven Betrieb entstehenden großen Mengen an Abwärme könnten ja auch genutzt werden, Beispiele dafür gibt es schon. So sollen in einem Pilotvorhaben in Frankfurt mit Abwärme 1.300 Wohnungen eines Neubaugebiets beheizt werden. Solche Projekte sind eine Win-Win-Situation: Digitalisierung mit erneuerbarem Strom und zugleich eine neue Form der Heizenergie.

Eine Studie der KfW hat ergeben, dass alternative Technologien in Hessen unterdurchschnittlich genutzt werden. So nutzen hierzulande nur 8 Prozent der Haushalte Sonnenenergie zur Warmwasserbereitung (Solarthermie) – verglichen mit 9,4 Prozent bundesweit. Auch bei Photovoltaik-Anlagen liegen die Haushalte bei uns mit 7 Prozent unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt von 8,5 Prozent, ebenso bei Wärmepumpen mit 8 Prozent (Bundesschnitt: 8,7 Prozent). Ein Elektroauto fahren in Hessen rund 2,7 Prozent der befragten Haushalte, deutschlandweit sind es aber 3,4 Prozent. Welche Pläne haben Sie, damit Hessen hier aufholt und an den anderen Bundesländern vorbeizieht?

Es ist ja kein Wettrennen der Bundesländer gegeneinander. Die Energiewende in Deutschland funktioniert nur, wenn wir alle an einem Strang ziehen. Und klar gibt es auch in Hessen Dinge, an denen wir arbeiten müssen. Aber wir sind insgesamt auf einem guten Weg. Mittlerweile entfällt auf den Energieträger Photovoltaik knapp die Hälfte der in Hessen installierten erneuerbaren elektrischen Leistung. Ein Großteil davon sind Anlagen, die auf privaten Hausdächern installiert sind. Das zeigt: Die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger ist da. Auch bei den Elektrofahrzeugen sehen wir steigende Zulassungszahlen: Der Bestand an rein elektrisch angetriebenen PKW hat sich von 10.670 im Jahr 2020 auf 24.300 im Jahr 2021 weit mehr als verdoppelt, wir sehen da jetzt eine dynamische Entwicklung. Sowohl bei den Erneuerbaren Energien als auch bei der Elektromobilität arbeiten wir daran, die Menschen über die bestehenden Möglichkeiten zu informieren und von der klima- und energiepolitischen Notwendigkeit zu überzeugen. Nur gemeinsam können wir es schaffen, Hessen bis 2045 klimaneutral zu gestalten.

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